Den Aufbau eines gerechteren, sozialen Europas – nichts geringeres verspricht die EU-Kommission mit ihrer neuen Sozialen Säule. Doch was richtungsweisend für die soziale Zukunft der EU sein soll, werde keine Schlagkraft entfalten können, monieren Kritiker.
Den 128 Millionen oft jungen Europäern, die zurzeit unter der Armutsgrenze leben, sollte sie Hoffnung geben. Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und soziale Inklusion – all das versprach die EU-Kommission, als sie am 26. April die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) präsentierte. Die neue Säule sei ein „Kompass für eine erneuerte Aufwärtskonvergenz in Richtung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen in Europa“, so die Kommission. Kurzum: Was hier geschaffen wurde, werde die Europäischen Union sozialer und fairer machen.
Doch was die Kommission unter Federführung von Vizepräsident Valdis Dombrovskis und Kommissarin Marianne Thyssen in enger Abstimmung mit nationalen Behörden, Sozialpartnern, der Zivilgesellschaft und Bürgern letztlich erarbeitete, erhält mehr Schelte als Rückhalt.
Denn die Reihe von Rechten und Grundsätzen, mit deren Hilfe faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme unterstützt werden sollen, leidet an einer grundsätzlichen Krankheit: Alles kann , nichts muss. Entsprechend wird der Entwurf nun zerrissen zwischen jenen, die sie zu schwach finden und jenen, die durch sie zu große Eingriffe befürchten.
Mehr Soziales gegen wachsenden Populismus
Dass sich die EU-Kommission bewusster dem Sozialen widmet, fand seit deren Ankündigung einer Sozialen Säule grundsätzlich viel Lob. Um dem schrumpfenden Vertrauen in die EU und dem wachsendem Populismus etwas entgegenzustellen, müsse sich die Union mehr auf ihre Stärken und ihre Errungenschaften besinnen, meinen Befürworter. „Es ist gut, dass die Kommission das Soziale endlich hoch auf die Agenda schiebt“, sagt Thomas Fischer vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). „Wenn wir in zehn Jahren kein sozialeres Europa haben, haben wir in zehn Jahren gar kein Europa mehr“, prophezeit er.
Nicht von ungefähr hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kürzlich gesagt, die jetzige Kommission sei „die der letzten Chance“. 370 Milliarden Euro Schaden, so rechnet die Kommission selbst vor, entstünden in der EU jährlich durch soziale Ungleichheit.
Spätestens seit der Finanzkrise sei die Konvergenz, also die vollständige Angleichung der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in den Mitgliedsstaaten, zum Stehen gekommen, erklärte Georg Fischer, Direktor für Soziales der Europäische Kommission, vergangenen Freitag in Berlin. Um den gemeinsamen Binnenmarkt zu stärken, zu dieser Einsicht sei nun die Kommission gelangt, sollten „Löhne nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch als ein wichtiger marktökonomischer Faktor betrachtet werden“.
Dass die in der Säule festgeschriebenen Grundsätze und Rechte helfen sollen, neue Entwicklungen in der Arbeitswelt und der Gesellschaft generell zu bewältigen, klingt entsprechend verheißungsvoll. Schließlich ist in den EU-Verträgen das Versprechen einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, explizit verankert.
Soziale Rechte – Belastung und Wettbewerbshindernis
Darum strebt der Kommissionsvorschlag unter anderem an, einen gesetzlichen Zugang zum Sozialschutz wie etwa in Form von Arbeitslosengeld für alle Beschäftigungsformen – einschließlich Selbstständigen, befristeten und Teilzeit-Mitarbeitern – zuzusichern. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie soll durch Zusicherung von bezahlter Elternzeit gestärkt werden. Ein sozialpolitisches Scoreboard soll die Fortschritte in den EU-Mitgliedstaaten anzeigen, um sie in Richtung des angestrebten sozialen „AAA-Ratings“ zu bewerten. Dies soll in das Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik einfließen.
Doch hier beginnt das Dilemma. Die Mitgliedstaaten und bestimmte Interessenvertretungen sahen die Umsetzung sozialer Rechte bislang oft als Belastung und Wettbewerbshindernis – und tun das auch jetzt noch. So kritisiert etwa der Arbeitgeberverband Gesamtmetall, die ESSR würde insbesondere in den Bereichen Bildung, Löhne und Gehälter, Sozialschutzleistungen, Gesundheitsversorgung, Renten und Arbeitslosenleistungen in weiten Teilen einen massiven Eingriff in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten und die Autonomie der Sozialpartner bedeuten. Die Kommission heize zudem Erwartungen an, die nach den aktuell gültigen EU-Verträgen nicht erfüllbar seien.
Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dessen Projekt die ESSR ist, sieht das naturgemäß anders: „Mit der europäischen Säule sozialer Rechte und dem ersten Paket von Initiativen, die diese Säule flankieren, lösen wir unsere Zusagen ein und schlagen ein neues Kapitel auf“, lobte er den Vorstoß und mahnte eindringlich: „Mitgliedstaaten, EU-Institutionen, Sozialpartner und Zivilgesellschaft tragen miteinander die Verantwortung. Ich hoffe darauf, dass die Säule vor Jahresende auf höchster politischer Ebene gebilligt wird.“
Empfehlungen statt Zusagen
Doch es gibt auch Kritiker auf der anderen Seite. Sie sehen in dem jetzigen ESSR-Entwurf nicht viel mehr als ein Luftschloss, weil die Säule nicht gesetzlich bindend ist. Insofern seien keinerlei Zusagen der Mitgliedstaaten zu erwarten, meint etwa Sophie Schwab, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz und Referentin für Sozialpolitik bei der Arbeiterwohlfahrt. Sie fordert: „Ein Mindesteinkommen wird in der Säule zwar erwähnt, aber wir brauchen dazu konkrete Zusagen.“
Auch DGB-Vertreter Thomas Fischer sieht den Entwurf „äußerst skeptisch, weil die Prinzipien lediglich Empfehlungen sind“ – und er verdammte die Motivation der Kommission in diesem Zusammenhang als marktopportunistisch: „Wenn ein soziales Europa eh nur der Gehilfe für eine funktionierende Kapital- und Geldunion sein soll, können wir Europa gleich in die Hände der Populisten geben“, so Fischer.
Gabriele Zimmer, Europa-Abgeordnete der Linken, fordert darum ein grundsätzliches Umdenken von der Kommission – weg vom globalen Konkurrenzkampf, hin zu einem sozialeren Europa. Deutschland habe zu lange festgelegt, wie alle anderen Staaten ihren Finanzen handhaben sollten, sagt sie im Gespräch mit Euractiv.de. „Wir können nicht weiter andere Staaten wie Griechenland zwingen, unserem Vorbild der Agenda 2010 zu folgen“, mahnt sie.
Statt Stabilitätspakt Bestrafung bei zu geringen Investitionen in Soziales
Dass die Mitgliedsstaaten für ein sozialeres Handeln mehr in die Pflicht genommen werden müssen, davon ist auch Zimmer überzeugt. Dabei schwebt ihr aber ein anderer Weg vor: Statt mit dem Stabilitätspakt wie bisher zu hohe Neuverschuldungen zu bestrafen, könnte man ein Alarmsystem einführen, das Staaten rügt, wenn sie zu wenig in „weiche Faktoren“ wie Bildung und Arbeitnehmerrechte investieren. „Schulden dürfen nicht durch Einsparungen bei der Bildung und Niedriglöhne getilgt werden“, warnt sie.
„Beim Thema Sozialschutz sind die Arbeitgeberverbände nicht sehr aufgeschlossen, also muss die Kommission etwas auf den Tisch legen, das die Interessen der Arbeitnehmer absichert“, fordert Zimmer. Es brauche gesetzliche Festlegungen in allen Mitgliedstaaten für soziale Faktoren.
„Schäuble ist ein inkompetenter Finanzminister“
Dass pauschale Festlegungen von Prioritäten im Bereich Beschäftigung und Soziales ebenso fern der Realität wären wie entsprechende Handlungsansätze für die gesamte EU, sieht auch sie.
Dazu muss die EU-Kommission nun einmal Kriterien für jede einzelne Region in Europa entwickeln, sagt Zimmer. So viel Aufwand das auch sei – eine deutsche Vorherrschaft in Sachen eines von Wolfgang Schäuble definierten „richtigen Sparens“ müsse ein Ende haben, fordert Zimmer. „Schäuble ist ein inkompetenter Finanzminister“. Und: „Es ist Zeit, dass die Parteien im Wahlkampf auch die negativen Seiten der deutschen Rolle in Europa thematisieren.“